Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass das Tarifeinheitsgesetz in weiten Teilen mit der Verfassung vereinbar ist. Das Gesetz ist damit nicht gekippt, allerdings hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber aufgegeben, bis Ende 2018 Vorkehrungen zur hinreichenden Berücksichtigung von Berufsgruppen vorzunehmen. So lange darf im Falle einer Kollision von mehreren Tarifverträgen in einem Betrieb der Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft nur verdrängt werden, wenn plausibel dargelegt wird, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Belange der Angehörigen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat.
Diese Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts lässt mich als Tarifpraktiker sehr ratlos zurück. Das Bundesverfassungsgericht spricht in der Begründung von der Gefahr einer unverhältnismäßigen Nichtberücksichtigung von Belangen der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen. Maßgaben spricht das Bundesverfassungsgericht aber nur in Bezug auf Berücksichtigung von Berufsgruppen aus. Fällt die DHV, die sich für bestimmte Berufsgruppen und Branchen tarifzuständig ist, unter die Maßgaben für Minderheiten? Anscheinend hat das Bundesverfassungsgericht nicht bedacht, dass es Minderheitsgewerkschaften nicht nur in Bezug auf bestimmte Berufsgruppen sondern auch in Bezug auf bestimmte Branchen gibt.
Lokführer, Ärzte und Flugbegleiter dürften auch in DGB-Tarifverträgen berücksichtigt sein. Ich gehe davon aus, dass aus Sicht der Mehrheitsgewerkschaften die Belange dieser Berufsgruppen mit ihren tarifvertraglichen Regelungen ernsthaft und wirksam berücksichtigt sind. Welchen Sinn macht aber dann die Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts?
Das Tarifeinheitsgesetz nimmt Bezug auf den Betrieb. Ein Branchentarifvertrag bezieht sich aber auf mehrere Unternehmen mit mehreren Betrieben. Eine Gewerkschaft kann in einem Betrieb Minderheitsgewerkschaft, in einem anderen Betrieb aber Mehrheitsgewerkschaft sein. Das bedeutet, dass alle Tarifverträge die Belange der Mitglieder der anderen Gewerkschaft ernsthaft und wirksam berücksichtigen müssen. Dann frage ich mich aber ernsthaft, welchen Regelungszweck das Tarifeinheitsgesetz dann noch hat.
Wenn die Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts so zu verstehen ist, dass sich Mehrheits- und Minderheitsgewerkschaft an einen Tisch setzen sollen, dann frage ich mich außerdem, welches Interesse Mehrheits- und Minderheitsgewerkschaft daran haben sollen. Ich sehe für die DHV in den Betrieben, in denen sie die Mehrheitsgewerkschaft ist, keinen Vorteil, mit verdi über die ernsthafte Berücksichtigung von verdi-Mitgliederinteressen im DHV-Tarifvertrag zu sprechen. Auch in den Betrieben, in denen die DHV die Minderheitsgewerkschaft ist, dürfte sie kein Interesse haben, mit der Mehrheitsgewerkschaft über die ernsthafte Berücksichtigung der Belange der DHV-Mitglieder zu verhandeln, damit unser Tarifvertrag durch den Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft verdrängt wird und wir lediglich einen Rechtsanspruch auf Nachzeichnung haben.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat damit weitere rechtliche Unklarheit geschaffen. Neben der Frage der Feststellung der konkreten Mitgliederzahlen der Gewerkschaften in den Betrieben dürfen sich die Fachgerichte im Streitfall auch noch mit der Frage beschäftigen, was denn eigentlich Minderheitenberufsgruppen sind, welche Interessen diese haben und ob die Interessen im Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft ernsthaft berücksichtigt sind. Erfreulich ist allein, dass bis zur zweifelsfreien Ermittlung dieser Frage der Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft gültig bleibt. Aber brauchen wir dann ein Tarifeinheitsgesetz? Meine Meinung: Nein!
Henning Röders
DHV-Bundesvorsitzender