Die Berufsgewerkschaft DHV hat unter dem Aktenzeichen 1 BvR 2387/21 Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 22.06.2021 zur Aberkennung der Tariffähigkeit eingelegt.
Die DHV sieht sich insbesondere durch folgende Aspekte der Bundesarbeitsgerichtsentscheidung in ihren Grundrechten als Arbeitnehmerorganisation verletzt:
1. Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot zu den Voraussetzungen der Tariffähigkeit
Die BAG-Entscheidung entspricht in keiner Weise dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot, demzufolge eine tariffähige Arbeitnehmerorganisation in der Lage sein muss, ihre Arbeit an den Maßgaben des höchsten deutschen Arbeitsgerichts zur Tariffähigkeit auszurichten. Die vom BAG aufgestellten Kriterien zur Tariffähigkeit strotzen vor unbestimmten Rechtsbegriffen und sind zum Teil widersprüchlich. Beispiele
- Einerseits verlangt das BAG Durchsetzungskraft und organisatorische Leistungsfähigkeit in einem nicht unbedeutenden Teilbereich der Tarifzuständigkeit. Andererseits erachtet das Bundesverfassungsgericht eine signifikante Repräsentanz in einer der von ihr beanspruchten Branchen für ausreichend.
- Einerseits spricht das BAG von Parität zwischen den Tarifpartnern und verlangt ein ungefähres Kräftegleichgewicht zwischen den sozialen Gegenspielern. Andererseits ist ein Mindestmaß an Verhandlungsgewicht ausreichend. Die Formulierung der Voraussetzung „zumindest so viel Druck ausüben kann, dass die Arbeitgeberseite sich veranlasst sieht, sich ernsthaft auf Verhandlungen über tarifvertraglich regelbare Arbeitsbedingungen einzulassen“ ist weit entfernt von der nur wenige Absätze vorher formulierten Maßgabe einer Verhandlungsparität.
Diese vom BAG formulierten Maßgaben machen es einer Arbeitgebervereinigung unmöglich, mit ihrer Arbeit und ihrer Verbandsorganisation hinreichend rechtssicher die Voraussetzungen für die Tariffähigkeit zu erfüllen!
2. Vollkommen überzogene und damit verfassungswidrige Maßstäbe an den Mitgliederorganisationsgrad.
Das BAG hat den umfangreichen Sachvortrag der DHV zu ihrer erfolgreichen Gewerkschaftsarbeit, insbesondere zu ihren tarifpolitischen Erfolgen, in keiner Weise gewürdigt. Es hat allein auf den Mitgliederorganisationsgrad abgestellt und diesen mit über einem Prozent der Beschäftigten im DHV-Tarifzuständigkeitsbereich als nicht ausreichend erachtet. Ein solcher sich allein an der Gesamtzahl der Beschäftigten orientierender Organisationsgrad stellt vollkommen überzogene Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft! Bei einem Gesamtorganisationsgrad aller Gewerkschaften von noch nicht einmal 15 % würde keine Gewerkschaft den Anforderungen des BAG an eine Parität zwischen den Tarifpartnern und einer signifikanten Mitgliederrepräsentanz erfüllen. Die Tariffähigkeit von NGG, verdi und IG Metall hat das BAG als gegeben angesehen, obwohl die DHV in ihrem Sachvortrag zur Genüge dargelegt hat, dass die Organisationsgrade insbesondere von verdi und NGG in deren bedeutenden Teilbereichen zum großen Teil unter 10 % liegen und damit sich vom DHV-Organisationsgrad nur um wenige Prozentpunkte unterscheiden. Das BAG hat an die DHV-Tariffähigkeit nicht nur einen vollkommen überzogenen Maßstab angelegt, sondern auch in Bezug auf die das Verfahren führenden DGB-Gewerkschaften mit zweierlei Maß gemessen! Mit einem objektiven, auf transparenten und nachvollziehbaren Kriterien beruhenden Verfahren hat die Entscheidung des BAG nicht zu tun!
3. Verfassungswidrige Nichtberücksichtigung der jahrzehntelangen DHV-Tarifarbeit
Die 1950 wiedergegründete DHV betrieb seit den 1950er Jahren in ihren Tarifzuständigkeitsbereichen eine jahrzehntelange erfolgreiche, von den Tarifpartnern anerkannte Tarifarbeit. Das BAG hätte diese erfolgreiche Arbeit in seinen Entscheidungsgründen berücksichtigen müssen. Stattdessen hat das BAG die letzte im Jahr 2014 erfolgte Änderung der satzungsgemäßen DHV-Tarifzuständigkeit zum Anlass genommen, um die DHV quasi in den Status einer jungen Gewerkschaft zu versetzen und festzustellen, dass erst die Tarifarbeit seit 2014 maßgebend ist und dieser kurze Zeitraum nicht für die Annahme einer langjährigen DHV-Tarifarbeit ausreicht. Diese Aussage des BAG ist für die DHV-Mitglieder in den Tarifkommissionen, von denen sich viele bereits seit Jahren und damit auch vor 2014 engagieren, nicht nachvollziehbar. Die BAG-Entscheidung ist in diesem Punkt eine verfassungswidrige Nichtberücksichtigung der jahrzehntelangen DHV-Tarifarbeit als mitentscheidender Faktor für die DHV-Tariffähigkeit!
4. Verfassungswidrige Verkennung des Tarifeinheitsgesetzes als zu berücksichtigender Faktor
Seit 2016 verleiht das Tarifeinheitsgesetz den mitgliederstärkeren Gewerkschaften das Recht, ihren Tarifverträgen vorrangige Geltung zu verschaffen. Mit dem Tarifeinheitsgesetz haben die DGB-Gewerkschaften es damit in der Hand, in die Betriebe zu gehen und mit dem Eintreten für ihre Tarifforderungen die DHV-Konkurrenz zu bekämpfen. Ein Tariffähigkeitsverfahren darf nicht als Ersatz für das Unvermögen herhalten, die Beschäftigten für die DGB-Gewerkschaftsforderungen zu begeistern und sich gegenüber der DHV-Konkurrenz durchzusetzen! Das Tarifeinheitsgesetz ist damit ein gesetzliches milderes Mittel zur Bekämpfung von Dumpingtarifkonkurrenz. Dort, wo das Tarifeinheitsgesetz nicht greift, weil die (DGB) Gewerkschaftskonkurrenz nicht durchsetzungsstark ist, kann einer Gewerkschaft die Tariffähigkeit nur bei nachweislichem Missbrauch der ihr in Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz garantierten Koalitionsfreiheit aberkannt werden. Zu keinem Zeitpunkt des Tariffähigkeitsverfahrens stand eine nachweislich missbräuchliche Tarifarbeit der DHV im Raum! Indem das BAG die Bedeutung des Tarifeinheitsgesetzes als verfassungsmäßiges Korrektiv gegen Tarifvertragsdumping verkannt hat, hat es in verfassungswidriger Weise ein milderes Mittel als die Aberkennung der DHV-Tariffähigkeit nicht gebührend berücksichtigt!