75 Jahre Tarifvertragsgesetz – ein Grund zum Feiern, aber auch zur kritischen Reflexion!

Vor 75 Jahren – am 22. April 1949 – trat das Tarifvertragsgesetz in Kraft. Es war ein Meilenstein auf dem Weg zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Denn es schuf noch vor Inkrafttreten des Grundgesetzes den Handlungsrahmen für die Tarifparteien zur Ausgestaltung der später in Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz garantierten Koalitionsfreiheit. Nach der nationalsozialistischen Unterordnung auch der Wirtschaft unter das Führerprinzip, aber auch in den ersten Nachkriegsjahren, in denen sogar die CDU in ihrem Ahlener Programm mit einem „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“ liebäugelte, war es kein selbstverständlicher Weg hin zu einer eigenständigen und frei von staatlichen Eingriffen geprägten Tarifpolitik der Tarifpartner. Das Tarifeinheitsgesetz war essentiell für die Etablierung der sozialen Marktwirtschaft und damit für das Wirtschaftswunder der Bundesrepublik Deutschland! 

Das Jubiläum ist daher ein Grund zum Feiern und die weitsichtige Leistung der Gründerväter der Bundesrepublik Deutschland zu würdigen. Dennoch ist es auch notwendig, kritisch den tarifpolitischen Handlungsbedarf zu reflektieren.

Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Tariffähigkeit von Gewerkschaften zeigt die unzureichende Garantie des Tarifvertragsgesetzes für die Tarifarbeit auch kleinerer Gewerkschaften. Bereits bei der Etablierung der sogenannten Mächtigkeitsrechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in den 1960er-Jahren waren Zweifel berechtigt, ob die vom Bundesarbeitsgericht angewandten Maßstäbe zur Durchsetzungsfähigkeit und Organisationsstärke von Gewerkschaften der grundgesetzlich garantierten Koalitionsfreiheit entsprachen. In der heutigen Zeit, in der der geamtgewerkschaftliche Organisationsgrad unter den Arbeitnehmern/innen weniger als 15 Prozent beträgt, ist die mit der Mächtigkeitsrechtsprechung weiterhin angewandte Auslegung des Gewerkschaftsmächtigkeitsbegriffs nach Überzeugung der DHV nicht mehr konform mit der Europäischen Menschenrechtskonvention! Die DHV hat deshalb Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Aberkennung ihrer Tariffähigkeit durch das Bundesarbeitsgericht eingelegt. Der EGMR hat die Beschwerde zur Entscheidung zugelassen und wir voraussichtlich noch in diesem Jahr darüber verhandeln.

Einen erheblichen staatlichen Eingriff zu Lasten kleinerer Gewerkschaften leistete sich die Bundesregierung mit dem Tarifeinheitsgesetz, das der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb das Verhandlungsrecht und den kleineren Gewerkschaften nur ein Nachzeichnungsrecht zugesteht. Unabhängig von der Frage, ob eine DGB-Gewerkschaft, die in vielen Bereichen nicht mehr als 10 Prozent der Belegschaften organisiert, als „Mehrheitsgewerkschaft“ angesehen werden kann, hat sich das Tarifeinheitsgesetz als untaugliches Instrument zu der von den Fürsprechern erhofften Eindämmung von Tarifkonflikten erwiesen! Das haben besonders die bisherigen Arbeitskämpfe in diesem Jahr, insbesondere bei der Bahn und an den Flughäfen, gezeigt.

Die Einführung des Mindestlohns war aus Sicht der DHV eine sinnvolle Begrenzung des Handlungsrahmens der Tarifparteien. Die Politik sollte aber maßvoll mit weiteren Eingriffen umgehen. Vor allem darf sie nicht der Versuchung unterliegen, mit weiteren staatlichen Eingriffen – wie z.B. Tariftreuegesetze – die DGB-Gewerkschaften zu Lasten kleinerer Gewerkschaften zu protegieren! Sinnvoll dagegen wäre eine Konkretisierung der Regelungen zur Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Das in § 5 Tarifvertragsgesetz festgelegte Kriterium einer drohenden wirtschaftlichen Fehlentwicklung muss mit einer konkreten Maßgabe belegt werden:

  • Weicht in einer Branche das Gehaltsniveau 20 % vom Tarifvertrag ab, der für allgemeinverbindlich erklärt werden soll, ist dem Antrag der Tarifpartner auf Allgemeinverbindlichkeit stattzugeben.
  • Bei einem Abweichen von 30 % ist ein Tarifvertrag auch auf Antrag einer Tarifvertragspartei für allgemeinverbindlich zu erklären

Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen christlicher Gewerkschaften darf nicht an der Besetzung der Tarifausschüsse alleine mit DGB-Vertretern scheitern. Deshalb ist in § 5 Tarifvertragsgesetz festzulegen, dass in den Tarifausschüssen alle gewerkschaftlichen Spitzenverbände in Deutschland vertreten sein müssen.

Die Bundesregierung ist gemäß der EU-Mindestlohnrichtlinie verpflichtet, einen Aktionsplan zur Steigerung der tarifgebundenen Arbeitnehmer/innen von derzeit rund 40 Prozent auf 80 Prozent zu erstellen. Eine Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen – auch von denen der christlichen Gewerkschaften – ist ein sinnvolles Instrument zur Steigerung der Tarifbindungsquote.

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