Ein Rat an die jungen Leute: Warum ihr euch organisieren solltet – und zwar jetzt Eine Kolumne

Ein Rat an die jungen Leute: Warum ihr euch organisieren solltet – und zwar jetzt-Eine Kolumne

„Gewerkschaft? Das ist doch was für meine Eltern.“ Diesen Satz höre ich ständig. Von gut ausgebildeten Berufseinsteigern, von Azubis, von Freelancern in hippen Co-Working-Spaces. Und jedes Mal denke ich: Genau deshalb seid ihr die Verlierer der Zukunft.

Klingt hart? Ist aber so. Schauen wir uns mal an, wie die Arbeitswelt gerade läuft.

Die Märchenstunde ist vorbei

Erinnert ihr euch noch an die Versprechen? „Fachkräftemangel“, hieß es. „Ihr könnt euch die Jobs aussuchen!“ „New Work“ würden wir machen, mit Obstkorb, Tischkicker und „flachen Hierarchien“. Die Realität sieht anders aus.

Befristete Verträge als Standard. Probezeiten, die sich anfühlen wie Dauerbewerbungsgespräche. Überstunden, die selbstverständlich erwartet werden – unbezahlt natürlich, weil „wir sind doch ein Team“. Home-Office-Pflicht wurde zur „Erreichbarkeit rund um die Uhr“. Und die Gehaltsverhandlung? „Tut uns leid, aber das Budget, du verstehst…“

Willkommen in der Realität. Willkommen dort, wo eure Großeltern schon waren – nur dass die sich gewehrt haben. 

Der größte Trick des Systems

Das Geniale am modernen Arbeitsmarkt ist: Man hat euch eingeredet, ihr seid alle Einzelkämpfer. „Entrepreneur deines eigenen Lebens.“ „Personal Branding.“ „Networking statt Solidarität.“ Jeder kämpft für sich, optimiert seinen Lebenslauf, seine Skills, sein LinkedIn-Profil.

Und während ihr individuell verhandelt, sitzt auf der anderen Seite eine Rechtsabteilung, eine HR-Abteilung, ein Vorstand – hochorganisiert, mit klarer Strategie. Ihr kommt einzeln, sie kommen als Konzern. Merkt ihr, wie unfair dieses Spiel ist?

„Aber ich brauche doch keine Gewerkschaft“

Klar. Du hast einen guten Job, ordentliches Gehalt, machst dein Ding. Wozu organisieren? Drei Gründe:

  • Erstens: Deine Situation ist fragiler als du denkst. Eine Umstrukturierung, ein neuer Chef, eine Krise – und plötzlich bist du verhandelbar. Dann ist es verdammt praktisch, wenn nicht nur dein Anwalt, sondern eine ganze Organisation hinter dir steht.
  • Zweitens: Alleine kriegst du die großen Sachen nicht durch. Vier-Tage-Woche? Mehr Gehalt? Bessere Arbeitsbedingungen? Klar kannst du individuell verhandeln – wenn du Glück hast, kriegst du ein bisschen mehr. Aber echte Veränderung? Die passiert nur kollektiv. Die 40-Stunden-Woche, die 35-Stunden-Woche, Urlaubsanspruch, Kündigungsschutz – nichts davon wurde erbettelt. Es wurde erkämpft.
  • Drittens: Die Spielregeln werden gerade neu geschrieben. KI ersetzt Jobs. Plattformökonomie höhlt Arbeitsrechte aus. Klimatransformation verändert ganze Branchen. Glaubst du ernsthaft, die Unternehmen fragen dich, wie das ablaufen soll? Nur wenn du organisiert bist, hast du eine Stimme, wenn die Zukunft deiner Arbeit verhandelt wird. 

Aber Gewerkschaften sind doch veraltet“

Sind sie. Teilweise. Viele Gewerkschaften haben den Anschluss an die Realität junger Beschäftigter verpasst. Zu langsam, zu bürokratisch, zu sehr auf Industriejobs fokussiert.

Aber wisst ihr was? Das ändert sich nur, wenn ihr mitmacht. Wenn ihr reingeht und sagt: „Das muss anders laufen.“ Organisationen verändern sich durch die, die mitmachen – nicht durch die, die draußen meckern.

Übrigens: Es gibt längst Vorbilder für moderne Gewerkschaftsarbeit, beispielsweise in den USA, Organizing-Kampagnen bei Lieferdiensten, bei Starbucks, bei Amazon, in der Games-Industrie, bei Startups. Junge Leute, die sich nicht alles gefallen lassen wollen und verstanden haben: Gemeinsam sind wir stärker.

Die Rechnung ist einfach

Ein Gewerkschaftsbeitrag kostet dich – je nach Einkommen – zwischen 10 und 90 Euro im Monat. Bei der DHV z.B. nur maximal 25 Euro. Dafür kriegst du:

  • Rechtsschutz im Arbeits- und Sozialrecht
  • Ggfs. Tarifverhandlungen, die mehr rausholen als du alleine jemals könntest
  • Rückendeckung, wenn du Missstände ansprichst
  • Weiterbildungen, Beratung, Netzwerk
  • Eine Stimme in Betriebsräten und Aufsichtsräten
  • Die Gelegenheit mitzuwirken und zu gestalten…
  • Das gute Gefühl sich nicht nur für Dich selbst, sondern auch für andere einzusetzen

Eine einzige erfolgreiche Gehaltsverhandlung, die durch Tarif- oder Kollektivvertrag abgesichert ist, holt die Beiträge von Jahren wieder rein. Rechtsschutz bei einer ungerechtfertigten Kündigung sowieso. Finanziell ist das also ein No-Brainer. 

Die unbequeme Wahrheit

Eure Generation erbt einen Arbeitsmarkt, der prekärer ist als der eurer Eltern. Weniger Festanstellungen, mehr Befristungen, weniger Rente, höhere Lebenshaltungskosten und Konkurrenz durch Künstliche Intelligenz. Die einzige Antwort darauf ist: Organisation.

Und nein, ich rede nicht von Revolution. Ich rede von verdammt pragmatischer Interessenvertretung. Davon, dass ihr euch nicht einzeln über den Tisch ziehen lasst. Davon, dass ihr mitentscheidet, wie Arbeit in Zukunft aussieht.

Was jetzt zu tun ist

Hört auf, euch als „noch nicht wirklich angekommen“ zu sehen. Ihr seid die Arbeitswelt von heute. Ihr habt die gleichen Rechte wie alle anderen – aber die muss man auch durchsetzen.

Schaut euch an, welche Gewerkschaft für euren Bereich zuständig ist. Geht zu einem Treffen, zu einer Veranstaltung. Redet mit Kolleginnen und Kollegen. Gründet einen Betriebsrat, wenn es keinen gibt.

Und ja, das kostet Zeit. Ja, das ist manchmal nervig. Aber wisst ihr, was nerviger ist? Mit 50 rauszufliegen und zu merken, dass du alleine ziemlich machtlos bist. Oder mit 30 zu merken, dass du für Arbeit ausgebeutet wirst, die andere reich macht, während du gerade so über die Runden kommst.

Der Deal

Die Gewerkschaften brauchen euch – dringend. Neue Perspektiven, digitale Kompetenz, Verständnis für moderne Arbeitsformen. Aber ihr braucht sie auch. Denn eines ist sicher: Die Unternehmen organisieren sich. Die Lobbys organisieren sich. Die Arbeitgeberseite ist hochorganisiert einflussreich.

Wenn ihr das nicht auch seid, habt ihr schon verloren.

Also: Organisiert euch. Nicht aus Nostalgie. Nicht aus Ideologie. Sondern weil es das Vernünftigste ist, was ihr für eure berufliche Zukunft tun könnt.

Geschrieben von jemandem, der möchte, dass ihr in 20 Jahren nicht bereut, euch nicht gewehrt zu haben.