F.A.Z., 25.06.2021, Wirtschaft (Wirtschaft), Seite 17
Der Triumph des DGB über die Gewerkschaft DHV ist arrogant und legt Widersprüche offen.
Von Dietrich Creutzburg
So viel Begeisterung wie in dieser Woche zeigen der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und seine Mitgliedsgewerkschaften im Einsatz für Arbeitnehmerrechte und Tarifverträge selten. Oder soll man ihr Verhalten lieber selbstgerecht und verlogen nennen? Auf jeden Fall haben die arrivierten Gewerkschaften jubelnd einen langen Kampf gewonnen, der ihnen fast wichtiger zu sein schien als normale Auseinandersetzungen mit Arbeitgebern: Sie haben es geschafft, einer anderen Gewerkschaft das Abschließen von Tarifverträgen zu verbieten.
Darum geht es: Die Arbeitnehmerorganisation DHV – Die Berufsgewerkschaft, die auf ein 128-jähriges Bestehen zurückblickt, die zum Christlichen Gewerkschaftsbund (CGB) gehört und die als Vertretung für 70 000 Beschäftigte in kaufmännischen und Verwaltungsberufen auftritt, wurde vom Bundesarbeitsgericht für tarifunfähig erklärt. Sie darf für ihre Mitglieder keine Tarifverträge mehr schließen, und alle bestehenden verlieren ihre Gültigkeit – darunter solche mit dem Deutschen Roten Kreuz, mit Unternehmen im Handel und in Banken. Betrieben wurde all das federführend von Verdi und dem Land Berlin, mit Unterstützung des gesamten DGB.
Es wirft sehr grundsätzliche Fragen zu Tarifautonomie und demokratischer Teilhabe auf: Unter welchen Voraussetzungen soll es Arbeitnehmern erlaubt sein, sich gewerkschaftlich zu organisieren und tarifpolitisch zu betätigen? Wer außer den DGB-Gewerkschaften und der Lokführergewerkschaft GDL darf diese Rechte im Alltag wahrnehmen? Und wie stark darf der Staat Arbeitnehmervertretungen diskriminieren?
Das DHV-Urteil stützt sich auf die alte Mächtigkeitsrechtsprechung, die es jenseits der staatlich anerkannten Sozialpartner faktisch nur auf Partikularinteressen fixierten Spartengewerkschaften erlaubt, sich eine Zulassung zur Tarifpolitik zu sichern. Sie vergleicht schlicht, wie viele Beschäftigte in dem durch Satzung und Selbstverständnis einer Gewerkschaft definierten Zuständigkeitsbereich arbeiten und wie viele Mitglieder sie hat. Die DHV kommt über ihr weites Terrain hinweg auf einen durchschnittlichen Organisationsgrad von unter zwei Prozent. Diese Probleme hat die Lokführergewerkschaft GDL natürlich nicht. Sie beschränkt sich auf eine nach Streikmacht optimierte Zuständigkeit – sollen doch andere Berufsgruppen der Bahn sehen, wo sie bleiben. Natürlich kann man fragen, ob das aus der Kaiserzeit stammende DHV-Modell einer berufsständisch und zugleich branchenübergreifend ausgerichteten Gewerkschaft Zukunft hat. Die traditionsreiche Deutsche Angestellten-Gewerkschaft hat dies 2001 für sich verneint und sich Verdi angeschlossen. Aber muss man solchen Gewerkschaften das Abschließen von Tarifverträgen verbieten, auch wenn sie sich in einzelnen Bereichen mit ihrem Organisationsgrad gar nicht verstecken müssen?
In einem Punkt haben die etablierten Kräfte verständliche Sorgen. Diese rechtfertigen jedoch keine Arroganz: Eine mitgliederschwache Konkurrenzgewerkschaft könnte ein Geschäftsmodell daraus machen, sich in fremde Tarifrunden gezielt mit “Rabattangeboten” an die Arbeitgeber einzumischen – um sie für Tarifverträge zu ködern, die sie allein niemals durchsetzen könnten. Aber rechtfertigt diese Gefahr ein präventives Betätigungsverbot für Gewerkschaften mit einem niedrigen durchschnittlichen Organisationsgrad? Plausibel wäre es, wenn vermeintlich übervorteilte DGB-Gewerkschaften in derlei Streitfällen belegen müssten, dass sie in betroffenen Betrieben wirklich mehr Mitglieder haben als die Konkurrenz.
Wer den Maßstab des Organisationsgrads so überhöht, der sollte ihn zumindest konsequent respektieren. Doch ausgerechnet Verdi führt mit aktiver Hilfe der Politik das Gegenteil vor: Altenpflegeheime und -dienste werden nun per Gesetz an Verdi-Tarifverträge gebunden, die unter Pflegekräften kaum Rückhalt haben; nur eine kleine Minderheit ist in Verdi organisiert. Man stelle sich die Reaktion der DGB-Gewerkschaften vor, falls eine Regierung die Idee hätte, die DHV zu hofieren und ihren Tarifverträgen Gesetzesrang zu geben, statt sie zu bekämpfen.
Man muss das Schicksal der DHV nicht allzu sehr bedauern, um in der Gesamtschau ein düsteres Bild zu sehen: arrogante Machtstrukturen, in denen Spielregeln nach Tagesinteresse gebogen werden; eine Schwächung von Tarifautonomie und gesellschaftlicher Selbstorganisation; ein Anreizsystem, das kompromisslose Partikularinteressen fördert – und all das vorgeblich im Dienste von Solidarität und Zusammenhalt.
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