Stellungnahme von Prof. Dr. Matthias Jacobs zum GDL-Streik

In dieser Woche eskaliert wieder der Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn. Die GDL hat ab morgen zu einem 35-stündigen Streik aufgerufen und hat angekündigt, zukünftige Streikmaßnahmen nicht mehr mit einem Vorlauf anzukündigen, der die Deutsche Bahn das Aufstellen von Notfallplänen ermöglicht.

Der Bahnstreik facht die Diskussion um eine Einschränkung des Streikrechts weiter an. Forderungen nach einer Zwangsschlichtung als vorgeschaltetes Instrument oder nach Einschränkung des Streikrechts in Bereichen der kritischen Infrastruktur werden wieder lauter.

In dieser aufgeheizten Stimmung hebt sich die sachlich fundierte Stellungnahme von Prof. Dr. Matthias Jacobs, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Zivilprozessrecht an der Bucerius Law School in Hamburg, wohltuend heraus. Mit seiner freundlichen Genehmigung drucke ich seine auf der Plattform Linkedin veröffentlichte Stellungnahme – versehen mit meinem Kommentar am Ende – ab:

Die Forderung nach einer Begrenzung des Streikrechts durch den Gesetzgeber, die so alt ist wie der Streik selbst, überzeugt mich wegen dessen überragenden Bedeutung für eine funktionierende Tarifautonomie nicht. Wer Ja zum Tarifvertrag sagt, muss auch Ja zum Streik sagen. In aller Kürze:

Die freiwillige Einigung auf eine Schlichtung kann sinnvoll sein, um festgefahrene Verhandlungen aufzubrechen und den Tarifkonflikt zu versachlichen, ein Schlichtungszwang mit nicht schlichtungsbereiten Verhandlungspartnern ist es nicht. Zudem senkt er das Mobilisierungspotential für einen späteren Streik und schwächt die Kampfkraft der Gewerkschaft erheblich.

Ähnliches gilt für Ankündigungsfristen und Abkühlungsphasen. Eine Ankündigungsfrist beeinflusst die Streiktaktik und kann die Wirkung des Streiks stark beeinträchtigen. Gegen Abkühlungsphasen spricht zudem, dass ein Streik außerhalb eines dynamischen Verhandlungsprozesses nicht plötzlich „angeknipst“ werden kann.
Diese Überlegungen gelten auch für Streiks in „kritischen Infrastrukturen“. Selbst wenn es gelingt, diesen schillernden Begriff zu konkretisieren, ist es jedenfalls gerade die Idee des Streiks, dass er wirtschaftlich (sehr) wehtun kann und seine Folgen auch Dritte treffen können. Das ist der Preis, den wir für eine funktionierende Tarifautonomie zu zahlen haben.

Arbeitnehmer:innen, die in solchen „Strukturen“ tätig sind, haben auch nicht weniger Rechte als andere. Im Übrigen können im Kernbereich staatlichen Handelns Beamt:innen eingesetzt werden, die nicht streiken dürfen. Und geht es um eine Mindestversorgung zur Befriedigung von elementaren persönlichen und staatlichen Bedürfnissen, muss die Gewerkschaft Notdienste zulassen.

Wer sich weniger Streiks der GDL wünscht, der zu Unrecht allein die Verantwortung für den bisherigen Verlauf des Tarifkonflikts zugewiesen wird, muss ganz woanders ansetzen: am „Brandbeschleuniger“ Tarifeinheitsgesetz. Wer eine Gewerkschaft dazu zwingt, Mehrheitsgewerkschaft im Betrieb zu sein, damit die eigenen Tarifverträge gelten, darf sich nicht darüber wundern, wenn diese Gewerkschaft (auch) um Mitglieder kämpft.

Wie hat gerade (…) auf LinkedIn formuliert: „Die Parteien werden sich letztlich einigen, wie sie es immer getan haben. Bis es so weit ist, freue ich mich über etwas mehr Gelassenheit und verbale Abrüstung in der Berichterstattung.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

 Mein Kommentar zur Stellungnahme von Herrn Prof. Dr. Jacobs:

Eine sehr gute, ausgewogene Stellungnahme zu dem laufenden Tarifkonflikt bei der Deutschen, lieber Herr Prof. Jacobs. Sie bringen es auf den Punkt: Eine Zwangsschlichtung oder andere Einschränkungen des Streikrechts führen zur Aushöhlung des Grundrechts auf Koalitionsfreiheit. Schon allein der Begriff “kritische Infrastruktur” ist sehr unbestimmt. Denn was kann man nicht alles darunter fassen: Kindergärten (wegen der mittelbaren erheblichen Auswirkungen für berufstätige Eltern), der komplette Bereich des Gesundheitswesens, die städtische Müllabfuhr, die IT der Banken und Versicherungen, die Energieversorgung etc. Der Phantasie, was zur kritischen Infrastruktur gehören kann, sind keine Grenzen gesetzt und eignen sich im Zweifelsfall für eine Beschäftigungstherapie von Anwälten und Gerichten.

Das geltende Recht bietet den Arbeitgebern die Möglichkeit, vor Gericht im Rahmen einer einstweiligen Verfügung angekündigte oder stattfindende Streiks als nicht verhältnismäßig untersagen bzw. beenden zu lassen. Da hatten Arbeitgeber in der Vergangenheit auch Erfolg gehabt

Ich bin auch Ihrer Meinung, dass das Tarifeinheitsgesetz ein untauglicher Versuch für eine Begrenzung von Streiks ist. Es gehört daher abgeschafft.

V.i.S.d.P.: DHV- Die Berufsgewerkschaft, Henning Röders, Droopweg 31, 20537 Hamburg

Hände

GDL-Streik darf nicht Anlass für Einschränkungen im Streikrecht sein

Die Berufsgewerkschaft DHV appelliert an die Politik, den Streik der GDL nicht zum Anlass für Forderungen nach Einschränkungen im Streikrecht zu nehmen. Gleichwohl appelliert die DHV auch an Bahn und GDL, in Verhandlungen einen tragfähigen Kompromiss zu suchen.

Die GDL führt mit dem bis zum 29.01.2024 dauernden Streik den längsten Bahnarbeitskampf seit Jahren durch. Der Streik ist unangenehm und trifft Millionen von Pendlerinnen und Pendlern und die Wirtschaft. Er ist leider auch Wasser auf die Mühlen von Gegnern und Skeptikern der Mobilitätswende, die am liebsten den Autos weiter Vorrang einräumen wollen. Dennoch muss Deutschland diesen Streik aushalten! Bei dem Streikrecht geht es um ein wesentliches Instrument zur Ausübung eines Grundrechts der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz – der Koalitionsfreiheit. Dieses Grundrecht schützt Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Arbeitgeberwillkür und Ausbeutung. Es ist Grundlage für materielle Sicherheit der Beschäftigten und gute Arbeitsbedingungen.

Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit darf nicht ausgehöhlt werden, nur, weil ein Streik eine besondere Tragweite hat, viele Menschen und die Wirtschaft trifft. Deshalb lehnt die DHV Forderungen aus der Politik nach einer verpflichtenden Schlichtung vor Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen ab. Die geforderte Anwendung einer solchen „Zwangsschlichtung“ auf Unternehmen in sogenannten „Bereichen der kritischen Infrastruktur“ und auf Streiks, die „vor allem unbeteiligte Dritte treffen“ lässt unverhältnismäßig Spielraum für Interpretationen und rechtliche Unsicherheiten. Denn unter kritische Infrastruktur lassen sich viel mehr Bereiche als Bahn, Schiffs- oder Flugverkehr fassen. Als „kritische Infrastruktur, die vor allem unbeteiligte Dritte trifft“ interpretiert werden können auch Logistik, Transport, Energieunternehmen, Banken, Versicherungen, Handel, Gesundheit und Pflege, Krankenhäuser, Öffentlicher Dienst, Schulen, IT-Unternehmen etc.. Am Ende würden nur wenige Bereiche übrigbleiben, in denen noch das Streikrecht als wesentliches Mittel zur Ausübung des Grundrechts auf Koalitionsfreiheit uneingeschränkt zum Tragen kommen würde.

Eine Schlichtung, die gegen den Willen einer oder beider Tarifparteien vorgeschaltet zur Anwendung kommen würde, wäre im vornherein zum Scheitern verurteilt. Eine Partei, die gegen ihren Willen zu einem solchen Verfahren verpflichtet wird, empfindet dies als Zwang und wird kaum bereit sein, sich ernsthaft am Schlichtungsverfahren zu beteiligen und das Ergebnis den Mitgliedern gegenüber zu vertreten. Am Ende werden die Verfechter eines solchen Zwangsmittels feststellen, dass dieses keinen Erfolg zeigt. Dann wird sich die Spirale der Aushöhlung eines Grundrechts nur weiterdrehen!

Die Rechtsordnung sieht eine Abwägung zwischen den Grundrechten der Betroffenen vor, die im Wege eines gerichtlichen Verfahrens vorgenommen werden muss. Ist ein Streik unverhältnismäßig, kann die Durchführung vom Gericht – erforderlichenfalls im Wege einer einstweiligen Verfügung – untersagt werden. Dafür bedarf es keiner Einschränkung des Streikrechts. Die Bahn war beim letzten GDL-Streik erfolglos diesen Weg vor Gericht gegangen. Diese Gerichtsentscheidung müssen alle Beteiligten und die Politik akzeptieren. Sie dürfen das Handeln des Frankfurter Arbeitsgerichts nicht mit Spekulationen über ein angeblich zu arbeitnehmerfreundliches Entscheiden torpedieren.

Gleichwohl fordert die DHV die Tarifparteien und insbesondere die GDL dazu auf, die Auseinandersetzung am Verhandlungstisch zu führen und möglichst wenig auf dem Rücken der Bahnkunden und der auf das Funktionieren der Bahn angewiesenen Wirtschaft. Immerhin hat sich die Bahn mit dem Angebot, ab 2026 wahlweise die Arbeitszeit um eine Stunde zu reduzieren oder eine höhere Gehaltserhöhung zu erhalten, etwas bewegt. Die GDL wäre gut beraten, am Verhandlungstisch einen möglichen tragfähigen Kompromiss weiter auszuloten als den längsten Streik seit Jahren zu führen, der nicht nur das Unternehmen Bahn, sondern auch Millionen von Arbeitspendlern, Bahnkunden und die Wirtschaft aufs Massivste trifft.